Von Leeds nach Bochum

Gespräch mit BODYS-Gastforscherin Johanna Knebel

Von der University of Leeds (Großbritannien) an die EvH nach Bochum – Johanna Knebel tauschte für die Arbeit an ihrer Promotion für drei Monate das Büro. Im Interview verrät sie, wie es dazu kam. Sie erzählt über ihr Forschungsthema „Sexuelle Bildung von und für Menschen mit Lernschwierigkeiten“ und erklärt, was inklusives Forschen für sie bedeutet und warum sie für Disability Studies „brennt“.

BODYS: Du promovierst am Centre for Disability Studies (CDS) in Leeds. Was bringt Dich zu uns ans Bochumer Zentrum für Disability Studies und an die EvH?

JOHANNA KNEBEL: Ganz konkret an die EvH hat mich natürlich BODYS gebracht. BODYS ist eines der wenigen Forschungszentren zu Disability Studies in Deutschland und mit Prof. Dr. Theresia Degener auch mit einer international sehr bekannten Forscherin der Disability Studies besetzt. Zudem konnte ich hier Prof. Dr. Kathrin Römisch treffen, was mir sehr wichtig war, weil sich unsere Forschungsinteressen überschneiden. Kathrin Römisch hat ja eines der wichtigsten Forschungsprojekte - „ReWiKs – Sexuelle Selbstbestimmung und Behinderung: Reflexion, Wissen, Können“ - in diesem Bereich mitgeleitet. Ich konnte mich dadurch deutschlandweit mit unterschiedlichen Kooperationspartner*innen von BODYS vernetzen.

Ein anderer Aspekt war aber auch die inhaltliche und praxisorientierte Ausrichtung der EvH insgesamt: Studiengänge wie Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik setzen sich ganz konkret mit den Themen Behinderung, Teilhabe und Inklusion auseinander. Zum einen hat mein Promotionsprojekt einen eindeutigen Praxisbezug. Daher ist für mich auch der Austausch mit Studierenden und Lehrenden in diesen Studiengängen interessant. Zum anderen ist eine Besonderheit im deutschsprachigen Raum, dass Disability Studies und Pädagogik so eng nebeneinanderstehen.

Von links: Kathrin Römisch, Johanna Knebel, Theresia Degener

Foto: Kathrin Römisch, Johanna Knebel und Theresia Degener (v.li.)

In Deiner Forschungsarbeit geht es um sexuelle Bildung von und für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Welche Fragen stellst du und wie gehst du vor?

Ich beschäftige mich mit dem Thema Peer (Beratungs-) Ansätze in der Sexuellen Bildung von und für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Das heißt, es geht um die aktive Einbeziehung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in die Entwicklung und Umsetzung von sexueller Bildung. Inhalte in der sexuellen Bildung werden überwiegend von nicht-behinderten Personen für Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt und vermittelt. Dabei wissen wir aber leider schon sehr lange, dass sexuelle Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten nur sehr lückenhaft umgesetzt wird. Daher habe ich mich gefragt, was wir anders machen müssen und was gewinnbringende Ansätze sein können.

Ganz konkret stelle ich nun die Frage, in welchen Umfang sich Theorie und Praxis verändern, wenn wir Menschen mit Lernschwierigkeiten aktiv als Expert*innen in eigener Sache einbinden. Dazu werde ich zwei bis drei Orte der praktischen Umsetzung näher in den Blick nehmen. Davon gibt es nur ganz wenige in Deutschland überhaupt. Im Fokus sollen vor allem die Peer Berater*innen mit Lernschwierigkeiten stehen.

Menschen mit Lernschwierigkeiten treten in der akademischen Forschung selten in erster Person und mit eigener Stimme auf. Wie positionierst Du dich selbst im Forschungsprozess?

Ich beschäftige mich schon lange mit meiner Rolle als nicht behinderte Wissenschaftler*in in den Disability Studies. Diese Reflexion ist wichtig, muss aber in der ganz konkreten Frage der Umsetzung von inklusiver Forschung mit und für diese Personengruppe münden und welche Verantwortung damit einhergeht. Was in meinem Fall heißt, Forschungsmethoden so zu gestalten, dass eine echte Beteiligung von Menschen mit Lernschwierigkeiten möglich wird.

Dabei gehe ich grundsätzlich davon aus, dass das „Problem“ oder die „Schwierigkeiten“ nicht bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und ihren vermeintlichen kognitiven (Nicht-) Fähigkeiten liegt, sondern in den traditionellen Forschungsmethoden. Zum einen wurden diese Methoden von nicht-behinderten Personen entwickelt. Zum anderen wird großer Wert auf Schrift(-sprache) gelegt, in Methoden und Publikationen. Dies müssen wir hinterfragen und inklusiv weiterentwickeln.

Was verstehst Du also unter inklusivem Forschen?

Es fängt damit an, individuelle Barrieren sowie Bedürfnisse von Forschungsteilnehmer*innen zu antizipieren und flexible Anpassung vorzunehmen. Zum Beispiel passe ich meine Kommunikation den Bedürfnissen von Menschen mit Lernschwierigkeiten durch die Einhaltung der Prinzipien der Leichten Sprache an. Ich verwende auch visuelle und kreative Methoden, um den starken Fokus auf Verbalsprache abzulenken. Zum Beispiel werde ich mit meinem Teilnehmer*innen ein sogenanntes „walking“ oder „wheeling“ Interview durchführen. Dabei geht man sozusagen gemeinsam spazieren. Die Teilnehmer*innen werden in meinem Fall die Gelegenheit bekommen, mir ihren Arbeitsplatz zu zeigen, Dinge, die ihnen wichtig sind. Der konkrete Bezug auf Gegenstände oder Orte führt nicht nur dazu, dass die Lebenswelt von Forschungsteilnehmer*innen erfahrbarer wird, sondern vereinfacht es auch, Erlebnisse und Erfahrungen zu erinnern und zu berichten. Ich erhoffe mir dadurch, den Kommunikationsbedürfnissen und der Lebenswelt von Teilnehmer*innen stärker gerecht zu werden.

Junge Frau mit tätowierten Armen und blauen Haaren vor einem Laptop in der Bibliothek

Foto: Johanna Knebel im Selbstlernzentrum der EvH Bochum

Du hast zunächst Sonderpädagogik studiert, danach in Leeds Disability Studies. Wie kam es dazu?

Ich habe mich schon immer stark für gesellschafts- und sozialpolitische Fragen interessiert. Und mich insbesondere mit der Frage der Konstruktion von Normalität und Behinderung auseinandergesetzt. Diese Frage wird in der Sonderpädagogik aber nur bedingt beantwortet bzw. verstärkt die Sonderpädagogik, dass wir Behinderung als eben nicht-normal betrachten. Damit wollte ich mich wohl nicht zufriedengeben.

Glücklicherweise hatte ich ein Seminar in Erfurt, in dem auch Disability Studies vorkamen. Das hat mich bis zum Abschluss meines Studiums in Erfurt nicht losgelassen. Außerdem wollte ich auch wieder ins Ausland gehen. Dann habe ich beides kombiniert und mich für ein Studium der Disability Studies in Leeds entschieden.

Wo siehst du Deine wissenschaftliche Heimat heute?

Rückblickend würde ich sagen, dass auch noch zwei andere Dinge entscheidend waren: Während meines Studiums in Erfurt habe ich lange in der klassischen sogenannten Behindertenhilfe gearbeitet und erlebt, wie wir, als Gesellschaft, behinderte Menschen durch die Aufrechterhaltung eines parallelen Sondersystems nicht nur immer noch ausschließen, sondern auch individuellen Bedarfen nicht gerecht werden.

Zeitgleich habe ich angefangen, Bücher von behinderten Selbstvertreter*innen zu lesen. Dass diese Bücher u.a. von Vertreter*innen der deutschsprachigen Disability Studies geschrieben wurden, habe ich allerdings erst später festgestellt. Heute verorte ich meine wissenschaftliche Heimat eindeutig in den Disability Studies nicht nur, weil ich viele Antworten auf meine Fragen gefunden habe, sondern auch weil ich davon überzeugt bin, dass wir Disability Studies unbedingt brauchen, um tragfähige Konzepte für eine inklusive Zukunft zu entwickeln. Ich habe noch viel mehr spannende Fragen als Antworten gefunden.

Vielen Dank für das Gespräch, Johanna. BODYS wünscht Dir viel Erfolg für Deine Dissertation!

Interview: Franziska Witzmann
Fotos: © EvH Bochum

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