Stellungnahme von BODYS zu ambulanter Zwangsbehandlung

Anlässlich der aktuellen Debatten in Deutschland um die Ausweitung der Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen erinnert BODYS daran, dass vor zehn Jahren der UN BRK Ausschuss seine erste Allgemeine Bemerkung verabschiedete, in der jede Form von Zwang als Verletzung der UN BRK abgelehnt wurde. Vor diesem Hintergrund äußerst kritisch zu betrachten, sind daher die Debatten über eine Legalisierung von Zwangsmaßnahmen im Rahmen der stationsäquivalenten psychiatrischen Behandlung gem. § 115 d SGB V oder auf landesrechtlicher Psychiatriegesetz-Ebene im Rahmen sogenannter ambulanter Behandlungsweisungen (vgl. Lippert, kobinet 01.09.23). Auch die Vorlage des BGH an das BVerfG zur Frage der Unverhältnismäßigkeit des bisherigen Verbots der nicht stationären ambulanten Zwangsbehandlung etwa in Wohneinrichtungen der Alten- bzw. Behindertenarbeit gem. § 1906a Abs.1 S.1 Nr. 7 BGB ist in diese kritische Betrachtung einzureihen.

Am 11. April 2004 wurde die Allgemeine Bemerkung Nr. 1 zu Art. 12 UN BRK (gleiche Anerkennung vor dem Recht) nach fünfjähriger Beratung durch den Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN BRK Ausschuss) verabschiedet. Der UN BRK Ausschuss ist das Gremium, das von den Vereinten Nationen und den Staaten beauftragt wurde, die UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) international zu überbewachen. Dafür stehen dem Ausschuss verschiedene Verfahren zur Verfügung. Eines davon sind die Allgemeinen Bemerkungen, mit denen er seine Erfahrungen bei der Überwachung in Empfehlungen zur Umsetzung einzelner Artikel aus der UN BRK zusammenfasst. Die rechtlich zwar nicht bindenden, aber hoch angesehenen Allgemeinen Bemerkungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Auslegung des deutschen Grundgesetzes zu berücksichtigen (BVerfG v. 16.12.2021 Az.1 BvR 1541/20). Die Allgemeine Bemerkung Nr. 1 befasst sich mit dem Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht (Art. 12 UN BRK). Danach gilt die Vermutung der rechtlichen Handlungsfähigkeit bei allen behinderten Menschen zu allen Zeiten. Aufgrund des Art. 12 UN BRK und seiner Allgemeinen Bemerkung Nr.1 wurden im deutschen Betreuungs- und Psychiatrierecht bereits weitreichende Reformen beschlossen. BODYS begrüßt diese Reformen und appelliert an Fachverbände, Politik und Gesetzgebung, sich auch bei dem Thema (ambulante) Zwangsbehandlung an die Vorgaben der UN BRK und seines Ausschusses zu halten.

Insbesondere in Absatz 42 heißt es in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 1:

„Wie der Ausschuss in mehreren Abschließenden Bemerkungen bereits festgestellt hat, stellt die Zwangsbehandlung durch Fachpersonal in der Psychiatrie sowie im Gesundheits- und medizinischen Bereich eine Verletzung des Rechts auf gleiche Anerkennung vor dem Recht sowie eine Beeinträchtigung der Rechte auf Unversehrtheit der Person (Artikel 17), Freiheit von Folter (Artikel 15) und Freiheit von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch (Artikel 16) dar. Durch diese Praxis wird dem Einzelnen die rechtliche Handlungsfähigkeit versagt, medizinische Behandlung frei zu wählen, was eine Verletzung von Artikel 12 des Übereinkommens darstellt. Die Vertragsstaaten müssen stattdessen die rechtliche Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen achten, jederzeit, auch in Krisensituationen, eigene Entscheidungen zu treffen; sie müssen sicherstellen, dass genaue und zugängliche Informationen über mögliche Leistungen angeboten werden und nicht-medizinische Ansätze zur Verfügung stehen; und sie müssen Zugang zu unabhängiger Unterstützung bereitstellen. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, Zugang zu Unterstützung bei Entscheidungen bezüglich psychiatrischer oder anderer medizinischer Behandlung zu schaffen. Zwangsbehandlung stellt ein besonderes Problem für Menschen mit psychosozialen, intellektuellen und anderen kognitiven Behinderungen dar. Die Vertragsstaaten müssen Verfahren und gesetzliche Bestimmungen abschaffen, die eine Zwangsbehandlung oder entsprechende Rechtsverstöße legitimieren. Diese sind nach wie vor unter Verstoß gegen das Übereinkommen weltweit in vielen Gesetzen über geistige Gesundheit zu finden, trotz empirischer Daten, die den Mangel an Effektivität belegen, sowie Aussagen von Menschen, die bei der Nutzung des Gesundheitssystems als Ergebnis von Zwangsbehandlung große Schmerzen und Traumata erlebt haben. Der Ausschuss empfiehlt den Vertragsstaaten sicherzustellen, dass Entscheidungen, die die körperliche oder geistige Unversehrtheit einer Person betreffen, nur nach freier und informierter Zustimmung der betroffenen Person getroffen werden dürfen.“ (Zitiert nach Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention 2015, S. 13)

Diese Vorgaben hat der UN BRK Ausschuss ein Jahr später in seiner 14. Sitzung 2015 erneut bekräftigt durch die Verabschiedung der Richtlinien zum Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person, die sich auf Art. 14 UN BRK beziehen. (Guidelines on the right to liberty and security of persons with disabilities: Annex to A/72/55 - Report of the Committee on the Rights of Persons with Disabilities - 13th through 16th sessions (2015-2016)) Darin wird insbesondere darauf hingewiesen, dass das Prinzip der eigenen informierten Einwilligung auch in Krisenzeiten gilt, in denen es den betroffenen Personen aufgrund von psychischen Erkrankungen oder kognitiven Beeinträchtigungen nicht gut geht. (Ziffer 22 der Richtlinie)

Die zwangsweise oder durch arglistige Täuschung herbeigeführte Medikamentengabe oder anderweitige Zwangsbehandlung ist mit den Grundsätzen der UN BRK nicht vereinbar. Sie verletzt Menschenrechte, wie z.B. die (körperliche) Integrität, die Menschenwürde und das Recht behinderter Menschen auf gleiche Anerkennung vor dem Recht und auf informierte und freie Entscheidungen in Bezug auf die eigene Gesundheit. Das bedeutet, dass auch eine ambulant – also im Pflegeheim oder in der eigenen Wohnung – durchzuführende Zwangsbehandlung nicht als „milderes Mittel“ zur zwangsweisen Einweisung in ein Krankenhaus gerechtfertigt werden kann. Auch behinderte Menschen, die in Pflege- und Behinderteneinrichtungen leben, haben ein Recht auf Schutz ihres Wohnbereichs, in dem kein ärztlicher Zwang stattfinden darf. Das sagen sowohl das deutsche Grundgesetz, das ein Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung enthält (Art. 13 GG), als auch die UN BRK in Art. 22 UN BRK, in dem es um den Schutz der Privatsphäre geht: „Menschen mit Behinderungen dürfen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort oder der Wohnform, in der sie leben, keinen willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in ihr Privatleben, ihre Familie, ihre Wohnung (…) ausgesetzt werden.“

Nicht nur aus menschenrechtlichen Erwägungen sind ambulante Zwangsmaßnahmen abzulehnen. Auch die Grundsätze moderner Psychiatrie und Heilpädagogik verbieten die Anwendung von (ambulantem) Zwang und Täuschung, weil sie zu Vertrauensverlust und Traumatisierungen führen. 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN BRK in Deutschland darf es keine Ausweitung von Zwangsbehandlung durch Legitimierung ambulanter Zwangsmaßnahmen geben. Sie sind zu Recht illegal und müssen es bleiben!

Gez. Theresia Degener & Kathrin Römisch

Bochum, den 22. April 2024

Stellungnahme vom 22.04.2024 als PDF / docx

 

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